"Die wissenschaftliche Lehre ist kein Nürnberger Trichter"
Ein Gespräch mit Prorektor Prof. Dr. Georg Wieland

attempto: Professor Wieland, Sie sind der Leiter der Senatskommission "Studium und Lehre". Welche Aufgaben und Ziele hat dieses Gremium?

Die Senatskommission hat die Aufgabe, Fragen von Studium und Lehre so vorzubereiten, daß der Senat einschlägige Beschlüsse fassen kann. Das Themenspektrum reicht dabei von der Bearbeitung der Studien- und Prüfungsordnungen bis hin zur Auswahl der Preisträger für den Landeslehrpreis. Wir befassen uns aber auch konzeptionell mit Fragen, die die Organisation des Studiums betreffen. Es werden Klagen darüber geführt, daß das Studium in einigen Fächern insbesondere für Anfänger nicht gut genug organisiert sei. Es sei so unübersichtlich, daß man erst am Ende des vierten Semesters eigentlich begriffen habe, in welcher Reihenfolge man sinnvoll studieren solle. Also stehen wir im Moment vor dem Problem, ob und wie wir das Studium genauer strukturieren können.

attempto: Sie sprechen von Klagen über die Organisation des Studiums. Kommen diese aus der Universität selbst oder spielen Sie damit auf die Kritik von außen an, mit der ja Politik und Wirtschaft derzeit nicht sparen?

Diese Klagen sind nicht direkt Personen zuzuordnen. Sie kommen gelegentlich von studentischer Seite, aber auch von Seiten der Politik. Allerdings reagieren wir nicht primär auf Vorhaltungen der Politik oder Wirtschaft. Vielmehr machen wir uns Gedanken darüber, wie ein durchschnittlich begabter Studierender ein Fachstudium anlegen soll. Wir fragen uns, ob und wie die Studierenden das nötige Rüstzeug bekommen, um im Grunde genommen freihändig zu studieren. Das Ideal des Abiturs, junge Menschen wirklich reif für ein Hochschulstudium zu machen, scheint mir weitgehend eine Illusion zu sein. Das ist der Sache nach nicht mehr gegeben. Denken Sie nur an die Heterogenität der Schulen, an unterschiedliche Schwerpunkte, Qualifikationen, Leistungen, an die Unterschiedlichkeit der Abiture überhaupt. Es gibt heute nicht mehr den einheitlichen Typus eines Studierenden. Schon deshalb muß man das Studium sinnvoller organisieren. Ich selbst bin sehr für eine erste Orientierungs-Prüfung schon nach zwei Semestern, die den Studierenden helfen könnte, ihren eigenen Standort zu diesem Zeitpunkt besser zu erkennen. Das erfordert dann selbstverständlich auch Überblicksvorlesungen.

attempto: Beziehen Sie Reife lediglich auf Fachreife? Brauchen denn die Studierenden gerade in dieser Lebensphase nicht auch andere Orientierungshilfen als nur die für den Kopf?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der allerdings weit über das Studium im engeren Sinne hinausgeht. Es ist wohl eine der Schwierigkeiten des deutschen Hochschulsystems, daß es von Anfang an vor allem den Kopf im Auge hatte. Ganz von selbst verstand sich die Vermittlung sozialer Qualitäten: Hierfür standen besonders Elternhäuser oder auch studentische Verbindungen ein. Das alles funktioniert nicht mehr so recht. Man ist vielmehr ganz auf sich selbst zurückgeworfen, muß mit sich selbst fertig werden. Daher gehören zum Studium heute auch vernünftige soziale und pädagogische Rahmenbedingungen. Hinzu kommt ein weiteres: Für das geisteswissenschaftliche Studium - wahrscheinlich aber auch für andere Studiengänge - sind Reifungsprozesse notwendig. Man versteht bestimmte Texte, bestimmte Frage- und Problemstellungen historischer oder künstlerischer Art erst nach einer Reihe von persönlichen Versuchen, Erprobungen und kann oft nicht den direkten Weg der Antwort gehen. Daher muß es auch für ein wissenschaftliches Studium eine bestimmte Dauer geben, selbst wenn man es in einer vernünftigen Zeit abschließen will und muß. Ja, das hat mit Reifungsprozessen zu tun.

attempto: Kann die Gesellschaft denn überhaupt noch etwas mit derartig 'wissenschaftlich gereiften' Menschen und ihren Potentialen anfangen - man denke nur an die steigende Arbeitslosigkeit von Akademikern?

Man trifft auf Arbeitgeberseite hier und da Stimmen, die meinen: Eure Absolventen sind zu alt. Das ist ein allgemeiner Vorwurf, den man verstehen kann. Aber es kommt ein zweiter hinzu: Eure Leute sind so qualifiziert, daß sie für uns überqualifiziert sind. Das kann ich nicht akzeptieren. Das ist nur eine Art Schutzmechanismus, sich besonders qualifizierte Leute vom Halse zu halten, durch die man möglicherweise in seinem gewohnten Denken beeinträchtigt wird. Die Bereitschaft und die Qualifikation insbesondere auch geisteswissenschaftlicher Absolventen, sich auf den unterschiedlichsten Berufsfeldern zu bewähren, sind nach meiner Beobachtung groß. Allerdings ist der Arbeitsmarkt inzwischen so eng geworden, daß er nur noch wenig aufnehmen kann

attempto: Wenn man aber diese Arbeitsmarktsituation mit der Frage der Reife zusammenführt, bietet sich dann nicht das Projekt "Lebenslanges Lernen" - ein stufenweises Lernen in kleineren Zeiteinheiten - als Lösung an?

"Lebenslanges Lernen" ist lediglich dem Titel nach neu, der Sache nach ist es geradezu identisch mit dem Begriff der Wissenschaft. Wissenschaft treiben heißt sein Leben lang zu lernen. Nun wird der Vorwurf erhoben: Ihr meint, junge Menschen zu Wissenschaftlern ausbilden zu sollen, während neunzig Prozent der Absolventen in die Praxis wollen. Dem ist zu entgegnen: Ein wissenschaftliches Studium setzt seine Absolventen in die Lage, selbständig zu Problemlösungen zu kommen. In ihrer Berufspraxis haben die meisten Absolventen dann allerdings kaum mehr die technischen, die instrumentellen, die bibliothekarischen Möglichkeiten, die Neuentwicklungen in den Wissenschaften zu verfolgen. Von daher bieten sich Phasen der Reflexion an, um diesen Absolventen in der Praxis Zeiten und Möglichkeiten zum Nachdenken, zur Erneuerung ihrer wissenschaftlichen Einsichten zu eröffnen. Ich halte dies für unausweichlich angesichts der wachsenden Veränderungsgeschwindigkeit nicht nur der wissenschaftlichen Einsichten, sondern auch unserer gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse.

attempto: Soll also die Universität an ihrer Idee von Studium und Lehre festhalten, ohne sich kurzfristigen Forderungen aus Wirtschaft, Industrie oder Politik zu beugen?

Das ist allerdings meine feste Überzeugung. Die Universität ist der Ort der Wissenschaft. Wer studiert, studiert wissenschaftlich und lernt nicht im Sinne eines Nürnberger Trichters. Wer lehrt, füllt nicht irgendwelche fertigen Konzepte im Sinne dieses Nürnberger Trichters in die Köpfe ein. Er führt hin zum Umgang mit Prozessen, mit Fragen und Antworten vorläufiger Art. Das ist die Grundidee der Universität: sich nicht mit fertigen Antworten zufrieden zu geben, sondern sie jedesmal wieder auf die Probe zu stellen und gegebenenfalls zu verwerfen, um nach neuen Fragen und Antworten zu suchen. Dieser Prozeß des immer neu "Nach-Gründen-Suchens" ist der eigentlich wissenschaftliche. Es geht bei Studium und Lehre um die Einübung in diese Haltung, die sich mit einer fertigen Theorie oder Praxis nicht zufrieden gibt.

Das Gespräch führte Jutta Schönberg

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